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Die World Wide Anonymität: Werden Menschen immer reaktionsfauler?

Ist euch schon mal aufgefallen, wie verdammt faul wir alle geworden sind, seit es diverse Websites oder Apps für alles Mögliche gibt? Wir müssten theoretisch nie wieder das Haus verlassen, weil sich alles online erledigen lässt. Naja, fast alles, um aus der Kirche austreten zu können, musste ich echt noch persönlich zum Amtsgericht tingeln. Die sind ja mal so was von 2016.

Aber mal ehrlich. Mit wenigen Klicks können wir uns Pizza, Lebensmittel oder Kleidung bestellen, die Boten bringen uns auch alles schön bequem bis vor die Haustür. Ein expandierender Getränkelieferdienst wirbt sogar damit, die schweren Wasserkisten bis an die Tür zu tragen. „Egal in welchem Stockwerk sich diese befindet“ (Quelle: flaschenpost.de). Und Freunde, selbst Dienstleister lassen sich online buchen, ganz ohne etwaigen persönlichen Kontakt. Vorstellungsgespräche? Ach nö, wieso denn selbst mit der potenziellen Putzkraft sprechen, gibt doch Videobewerbungen. Gehalt lässt sich auch online überweisen, sogar automatisiert mit einem netten Dauerauftrag. Hach, ist das schön.

Unterm Strich will ich sagen: Das Internet lässt uns alle faul werden. Nicht, dass ich mich beschweren wollte, denn habt ihr schon mal euren Großeinkauf online bestellt und euch liefern lassen? Für Menschen wie mich, also Menschen ohne Auto, ist das einfach genial. Ich spare mir die verhassten Menschenmassen im Supermarkt, das lästige Abgleichen mit dem Einkaufszettel und natürlich die endlos langen Kassenschlangen. Eins meiner größten Talente ist übrigens, mich immer in die Schlange zu stellen, die am langsamsten vorangeht. Hammer, oder? Und klar, das Nachhausetragen der Einkaufstüten spare ich mir auch. Wisst ihr eigentlich, wie schwer so eine Baumwolltüte gefüllt mit allerlei Supermarktgedöns auf der Schulter werden kann?
Mit dem Onlineeinkauf muss ich zwar auf die Ausübung meines oscarverdächtigen Talents verzichten, spare aber eben auch Zeit. Und ich glaube, das ist es, wieso wir es so lieben. Und natürlich, weil es einfach super komfortabel ist. Ich kann mich davon nicht freisprechen, ich bin ein verdammtes Online Victim. Aber #digitalnative, so läuft das halt bei uns.

Hauptsache nicht ich, irgendwer macht’s schon

Doch von einer Sache kann und will ich mich freisprechen: Das Internet hat mich weder sprech- noch reaktionsfaul gemacht. Und jetzt, nach viel Rumlaberei, komme ich zum eigentlichen Punkt: Seit Anonymität zum eklatanten Dauerzustand dieser Gesellschaft geworden ist, fühlen sich Menschen scheinbar nicht mehr persönlich angesprochen. Zumindest, wenn verzweifelt versucht wird, sie mit diesem scheinbar anonym gewordenen Allgemeinheits-Ihr zu erreichen. Wird ja schon irgendwer erledigen. Irgendwer, ein noch anonymeres Wort. Wahrscheinlich war es auch schon immer so, dass wir Pflichten gerne an andere abgegeben haben, wenn es irgendjemand erledigen kann. Wenn meine Mutter z. B. in den Raum gefragt hat „Könnt ihr mir beim Staubsaugen helfen?“, dann habe ich gerne auch einen Moment gewartet, ob denn meine Brüder sich wohl erbarmen.

Gruppe von Menchen am Smartphone

Gut, das sind Haushaltsgeschichten, die sowieso niemand gerne macht. Wie aber sieht’s denn in anderen Bereichen aus, Gruppenchats z. B.? Chatten macht schließlich Spaß. Ist ja bald Silvester, schon mal versucht, eine Party über WhatsApp zu planen? Mit einer wunderbaren Partygruppe, die ja alles vereinfachen soll? Die Grundidee: Mensch erstellt Gruppe. Mensch lädt Freunde ein. Freunde sagen zu oder ab. Alle Teilnehmer stimmen über dies und jenes ab. Fertig. Ist jetzt nicht besonders anspruchsvoll, oder?
Was auch immer es ist, in der Realität sind Benutzer dieses Prinzips scheinbar doch allerlei Herausforderungen ausgesetzt. Es fängt schon damit an, dass jede Gruppe immer stille Mitleser hat. Ist halt eher bescheiden, wenn man als Gastgeber wissen möchte, mit wie vielen Gästen man rechnen kann. Wir reden also nur von einem kurzen „Klar, bin dabei“ oder einem „Sorry, kann nicht“. Okay, mit den Kommata dabei… Scheinbar ist es eine olympische Disziplin geworden, ein paar kurze Worte zu tippen. Oder von mir aus auch als Sprachnachricht zu verschicken. Wenn alles nichts hilft, kann die Antwort auch getanzt und gefilmt werden – whatever! Muss aber irgendwie echt anspruchsvoll sein, dass das so semi klappt. Wahrscheinlich krasser als Integralrechnung. Oder vielleicht bin ich ja einfach nur mit übernatürlichen Fähigkeiten gesegnet.

Nach ein paar Tagen hat man dann vielleicht von 80% der Mitglieder eine Antwort – wenn’s gut läuft. Den Rest muss man aktiv ansprechen, um ein Lebenszeichen zu erwarten. Am besten mit vollem Namen, Outfitbeschreibung und Sozialversicherungsnummer, damit sie auch wirklich wissen, wer gemeint ist. Denn dieses allgemeine „Ihr“ funktioniert ja nicht mehr. „Jemand“ schon gar nicht. Stehen diese Wörter überhaupt noch im Duden? Vielleicht habe ich ja auch eine Rechtschreibreform versäumt und sie existieren gar nicht mehr. Das würde einiges erklären.

Hat man die Teilnehmer ermittelt, müssen vielleicht noch diverse Dinge abgestimmt werden… Spiele, Getränke, Essen? Vielleicht sind ja Veganer oder Allergiker dabei. Wer bringt was mit? Kann jemand beim Einkaufen helfen? Oder beim Vorbereiten? Tja Leute, viel Spaß. Ich sag ja, reaktionsfaul. Dasselbe Problem taucht so ziemlich bei jeder webexistenten Gruppe auf. Egal, welche Plattform, egal, welches Vorhaben, egal, welche Planung. Meine Theorie, wieso es scheinbar zu viel verlangt ist, mal eben ein paar Sekunden für eine Antwort zu opfern: Besagte Personen verstecken sich hinter der Anonymität des Webs, welche wiederum der Reaktionsfaulheit betroffener Personen einen Nährboden zum Wachsen und Gedeihen gibt. Da es immer dieselben Menschen sind, schließe ich einfach mal aus, dass sie die Antwort schlicht vergessen. Das kenne ich natürlich auch, kurz lesen, antworten geht gerade nicht, vergessen. Aber das ist es nicht. Vielleicht eine neumodische Webneurose? Ich habe echt absolut keinen Schimmer. Was ich aber weiß: Leute, es nervt! Ihr seid keine very special guests, denen man liebend gerne tagelang hinterherläuft.

Soziale Verantwortung wird überbewertet?

Jetzt ist das Planen einer Party oder eines anderweitigen Treffens mit mehreren Teilnehmern natürlich nichts Weltbewegendes und ich jammere schon auf hohem Niveau. Aber adaptiert dieses Verhalten doch mal auf prekärere Situationen – auch oder besonders außerhalb des Webs. Wenn ein älterer, gebrechlicher Mensch in die Bahn steigt und irgendjemand seinen Platz anbieten sollte. Wenn Menschen Hilfe benötigen und in den Raum fragen: „Kann mir jemand helfen?“ Wenn jemand ernsthaft in Gefahr schwebt und verzweifelt ruft: „Hilfe! Kann mir irgendjemand helfen?“ Tja, wir können ja mal brainstormen, wie die Resonanz so sein wird. Böses, anonymes Irgendjemand aber auch.

Soziale Verantwortung, Nächstenliebe und Zivilcourage sind immer mehr Erdbewohnern ein Fremdwort. Es war wohl durchaus schon immer so, dass sich Menschen in großen Gruppen gern hinter anderen versteckt haben, aber ich denke, dass die durch das Web immer größer werdende Anonymität ihren Anteil dazu beiträgt, dass dieses Verhalten sich weiter ausbreitet. Und ja, verdammt nochmal, wenn ihr Teil einer Gruppe seid, dann tragt ihr allen Gruppenmitgliedern gegenüber soziale Verantwortung! Ganz gleich, ob ihr nur eine simple Party plant oder ob jemand in ernsten Schwierigkeiten steckt. Deshalb möchte ich so kurz nach Weihnachten einfach mal zum Nachdenken anregen (Ja, ich weiß, dass das nicht leicht ist, aber ich gebe die Hoffnung nicht auf!): Wenn ihr eine noch so kleine Tat vollbringen könnt, die jemand anderem hilft – ganz gleich, auf welche Weise – dann vollbringt sie doch. Und wenn es nur eine kurze Antwort in einem Gruppenchat ist, dann opfert doch einfach mal ein paar Sekunden dafür. Als würdet ihr nicht sowieso viel zu oft am Handy hängen, erzählt doch nichts. Und wenn ihr die Gruppennachrichten lest, und ich weiß, dass ihr das werdet, dann reagiert doch einfach mal. Ist ganz leicht, versprochen!

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