Endlose Sexanfragen statt der großen Liebe – wieso Dating-Apps zu kostenlosen Bordellen mutieren
Das Jahr 2012 hat das Online-Dating revolutioniert. Gab es bisweilen einige Singlebörsen, die wohl eher von verzweifelten Singles benutzt wurden (RTL Teletext z. B., no more words needed), ist eine simple, aber Trends setzende App aus dem digitalen Boden gesprossen: Die Rede ist natürlich von Tinder. Es wäre eigentlich zu schön, um wahr zu sein: In einer Zeit, in der Menschen immer länger arbeiten und kaum noch Zeit für das Knüpfen neuer Kontakte haben, lassen sich Personen von der Couch aus mühelos nach Sympathie selektieren. Nach Sympathie, aber vor allem nach Optik. Wer will schon jemanden daten, den er hässlich findet? Spricht dich jemand nicht an, likest du ihn nicht. Ganz einfach – und natürlich überhaupt nicht oberflächlich.
Das Kennenlernen neuer Leute wird durch das überaus simple „Swipen“ und das Sammeln von „Matches“ zum Kinderspiel. Selbst die dümmsten Vollidioten der Geschichte sind in der Lage, die App zu bedienen. Gefällt dir jemand? Swipe rechts. Gefällt dir jemand nicht? Swipe links. Liket dich jemand zurück, matcht ihr. Dann könnt ihr Nachrichten austauschen, euch irgendwann treffen und ineinander verlieben. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann lieben sie sich noch heute. Ende.
Like, Match and Sex ’n’ Roll
Tja, Geschichten aus dem Paulanergarten… Die Realität sieht natürlich anders aus. An dieser Stelle möchte ich gerne spoilern, denn der nachfolgende Text enthält zynische, despektierliche und gen(d)eralisierende (😉) Aussagen, die speziell meine männlichen Artgenossen betreffen. Solltet ihr euch davon getriggered fühlen, empfehle ich, das Lesen einzustellen und weiter mit Legosteinen zu spielen.
Also: Wofür eignet sich eine anonyme und idiotensichere Dating-App in erster Linie? Natürlich um eine schnelle Nummer zu finden. Promiskuität at its best. Adé anstrengendes, kräftezehrendes und wenig erfolgsversprechendes Ansprechen in einer Bar, hallo unkomplizierte App! Dass es wirklich unfassbar leicht ist, zeigt der folgende Screenshot (der eine kulturell wertvolle und höchst intellektuelle Konversation zeigt):
Jetzt kann man mich natürlich naiv nennen, dass ich noch an Beziehungen und tiefgründige Gespräche glaube. Vor allem in einer App, die fast danach schreit, als Instrument für schnellen Sex missbraucht zu werden. Und in einer Welt, in der sich Menschen Bindungsängste attestieren lassen, weil sie sich zu fein für Verantwortung sind, und in der das wirkliche Kennenlernen eines anderen Menschen – wohlwollend gesagt – nicht mehr Prio 1 hat. Aber mal Tacheles: Meinem Gefühl nach zu urteilen, sind es mindestens 90% aller Männer, die eben nur das Eine suchen. Und laut Aussagen meiner männlichen Freunde sieht es bei Frauen nicht groß anders aus. Verdammt nochmal, dreht sich denn heutzutage wirklich alles nur um Sex? Hat keiner mehr Eier in der Hose, um langfristige Bindungen einzugehen? Ganz gleich, welcher Natur – in den USA wird Tinder z. B. oft genutzt, um neue Freunde oder Bekanntschaften zu finden. Diese ständigen Sexanfragen lassen vermuten, dass Dating-Apps wirklich als kostenlose Alternative eines Bordells genutzt werden: für egoistischen Sex ohne jegliche moralische Verpflichtung. Und sie lassen ebenfalls vermuten, dass sich die Menschheit zurückentwickelt. All die fortgeschrittenen Technologien und medizinischen Wunder ersetzen eben keine menschliche und charakterliche Weiterentwicklung. Und da KI irgendwann vollends das Denken des Homo Sapiens übernehmen wird, for sure, wird der Mensch wieder zu dem Wesen, das nur für seine biologischen Grundbedürfnisse lebt: hungrig, durstig, müde, geil.
Es ist durchaus völlig legitim, im Web nach sexuellen Bekanntschaften zu suchen, wenn man seine Absichten deutlich macht. Ich möchte das überhaupt nicht generalisierend verteufeln. Aber das Deutlichmachen seiner Absichten erfordert nun mal Ehrlichkeit und Rückgrat, Werte, die viele Personen meiner bescheidenen Ansicht nach nicht mehr kennen. Wieso ich das denke? Hier kommen mal ein paar persönliche Tinder-Erfahrungen von mir auf den Tisch, denn ja, ich als digital abhängige Frau habe dem spirituellen Sog dieser App natürlich nicht widerstehen können – shame on me! Die unzähligen Sexanfragen lasse ich mal außen vor, ich denke, das habe ich genug erläutert. An dieser Stelle aber nochmal der Hinweis: Da ich als Hetero meine Suche nur nach Männern gefiltert habe, beziehen sich natürlich meine eigenen Erfahrungen nur auf Männer. Deal with it.
Die gnadenlos ehrliche Wahrheit über das Dating via App
Das Prinzip hinter Tinder und all den anderen Dating-Apps ist doch eigentlich recht simpel. Wenn dir jemand gefällt, likest du ihn. Wenn er dich auch liket, matcht ihr. Daher doch der Name „Like“. Auf Deutsch übersetzt „mögen“. Scheinbar denken sich zahlreiche Männer aber, wenn sie ihre Likes nach dem tatsächlichen Gefallen eines Profils selektieren, ist natürlich auch die Anzahl der potenziellen Matches geringer. Simple Mathematik. So kommt es nicht allzu selten vor, dass man matcht, schreibt und binnen Sekunden das Match dann aufgelöst wird. So schnell, dass nicht mal genug Zeit bleibt, die Nachricht zu lesen. Und deshalb frage ich: Wieso? Euer kleines eigenes Prinzip erhöht zwar möglicherweise die Matches, aber dann matcht ihr eben auch Menschen, die ihr eigentlich nicht wollt. Ihr macht euch also nicht nur mehr Arbeit (schließlich muss ja einmal nach rechts gewischt und dann noch auf „Unmatch“ geklickt werden), ihr verschwendet auch noch die Zeit derer, die sich vielleicht wirklich Gedanken um einen coolen und persönlichen Eisbrecher als Einstieg überlegen. Eine „Lose-Lose-Situation“, wenn man so will. Ich ziehe daraus folgenden Schluss: Solche Männer nehmen erstmal, was sie kriegen können. Es war schließlich schon immer so, dass es Frauen nicht an Angeboten mangelt, Männern dagegen schon. Und dann die Überraschung: „Hey, da matchen ja tatsächlich ein paar Frauen! Dann kann ich ja wieder die löschen, die ich im Notfall genommen hätte.“ Klingt sympathisch? Tja, denkt mal darüber nach.
Darüber rege ich mich aber schon gar nicht mehr auf, denn das ist wirklich Alltag. Genauso die Tatsache, dass viele Männer auf die erste Nachricht einfach nicht antworten – egal, ob sie freundlich, witzig oder sonst wie sympathisch geschrieben ist. Aber dann ins Profil schreiben: „Gibt es eigentlich auch Frauen, die zuerst schreiben?“ Genau mein Humor. Ebenso wie die hier: „Wer zuletzt matcht, der schreibt.“ Kein Ding, aber was, wenn sie zuletzt matchen? Dann gilt das wohl nicht. Außer natürlich, sie wollen Sex. Dann geht das Anschreiben ganz leicht:
Dann gibt es solche, bei denen ich mir nicht sicher bin, wieso sie Dating-Apps nutzen. Ich spreche von denjenigen, die schier kein Interesse an einer echten Unterhaltung zu haben scheinen. Da bleibt es bei knappen Nachrichten, dem bloßen Beantworten von Fragen, ohne näher auf Details einzugehen oder dem simplen Verschicken einsamer Emojis. Ich weiß nicht, ob es an mangelnder Begeisterung für eine Konversation oder vielleicht sogar an mangelndem Intellekt liegt, aber so oder so ist weniger als Smalltalk nicht tauglich für eine App, die Nachrichten erfordert, um ihr gesamtes Potenzial zu zeigen. Schaut euch doch den folgenden Screenshot an und verratet mir, woran es liegen könnte:
Aber nehmen wir an, es kommt zu einem echten Gespräch. Man schreibt, man versteht sich, man trifft sich vielleicht sogar und man stimmt überein, dass man sich auch weiterhin sehen will. Dann die Wendung im 3. Akt: Urplötzlich scheinen die Termine und der Arbeitsstress zuzunehmen, sodass die Zeit nicht mehr für eine kleine Nachricht am Tag reicht. Vielleicht ist das ja ein Fluch, der auf Männern lastet; sobald sie eine Frau wirklich mögen, verflucht der Herr sie mit Arbeit. Aus wenigen Nachrichten wird dann von heute auf morgen, ihr ahnt es schon, gar keine Nachricht mehr. Und das, nachdem zuvor ellenlange und persönliche Gespräche stattgefunden haben. Auch dafür habe ich eine Erklärung, die ganz simpel ist: Ihr habt verdammt nochmal keine Eier in der Hose. Denn jetzt mal Butter bei die Fische, für einen solchen urplötzlichen Sinneswandel kann es in meinen Augen nur zwei Ursachen geben: Entweder besagte Männer haben gelogen, was die Sympathie angeht, oder sie haben das Interesse peu à peu verloren oder jemanden kennengelernt, der in ihren Augen interessanter ist, und drücken sich vor der unangenehmen Situation, es sagen zu müssen. Situation 1: Keinen Kommentar wert, Unehrlichkeit gehört in die Tonne gestopft. Situation 2: Kein Rückgrat zu haben, ist mindestens genauso schlimm. Vor allem, wenn vorher Sätze wie „Ich mag dich wirklich“ oder „Wir müssen uns wiedersehen“ gefallen sind. Vielleicht tue ich damit auch vielen Männern Unrecht. Vielleicht erfordert es einfach fundierte kognitive Fähigkeiten und ein Höchstmaß an Empathie, um gewisse Handlungen und besonders die Auswirkungen derer auf andere zu reflektieren. Einfach gesagt: Hey, vielleicht könnt ihr einfach nichts dafür, wenn euer zwischenmenschlicher Horizont nur bis zum Mittagessen reicht.
Um dem Männer-Bashing zum Ende hin ein wenig Wind aus den Segeln zu nehmen, laut den Erfahrungen meiner männlichen Freunde gibt es auch genügend Frauen, die scheinbar zu viel Lack geschnüffelt haben. Solche, die verzweifelt einen Ersatz für den Ex suchen, über den sie noch nicht hinweg sind, oder solche, die nur auf der Suche nach heißen Vorzeigematches und Steigerung des Selbstbewusstseins sind. Und dann gibt es, #MeToo sei Dank, noch mein absolutes Lieblingsbeispiel:
Hach, die guten diktatorischen Feministinnen, die jedem on top noch ihre vegane Lebensweise aufzwingen möchten. Ist doch toll, anderen Leuten diktieren zu wollen, wie sie zu leben haben. Doch zu diesen Themen komme ich noch. Was ich damit sagen will: Egoismus und Fehlverhalten kennen kein Geschlecht.
Abschließend lässt sich sagen, dass Dating-Apps wirklich alles bieten: eine Plattform für unverbindlichen Sex, die Möglichkeit, sich über Dummköpfe aufzuregen und hin und wieder tatsächlich auch mal ein interessantes Gespräch. Dass Letzteres eher selten vorkommt, brauche ich wohl nicht zu erwähnen. Aber wie dieser Blog zeigt, ich rege mich scheinbar sehr gerne auf, weshalb ich mich wohl weiter an meinen Hoffnungen verbrennen werde. Blöde Ambivalenz aber auch!